“Ich bin aufgewachsen in einer Zeit, die nichts für Kinder war”

Hendrik Bolz liest aus seinem Buch Nullerjahre und spricht über Ostdeutschland nach der Wende, über Gewalt und Perspektivlosigkeit. Und das Gefühl, mit der eigenen Jugend nichts mehr anfangen zu können. 

2015 erschienen das Lied Plattenbau OST. Darin erzählte der Rapper Testo kryptisch von seinem Heranwachsen in Stralsund. Von Kindern die das Gas von Feuerzeugen in ihre Lungen ziehen, die sich Hakenkreuze in die Arme ritzen, sich prügeln, die verloren sind, weil sich niemand um sie sorgt. Aus dem Lied ist ein Buch geworden, aus Testo Hendrik Bolz. Er sitzt mit überschlagenen Beinen auf der Bühne im Münchner Ampere, liest aus Nullerjahre. Wo 2015 noch die Verlorenheit war, ist an diesem Montagabend ein Staunen: Wie konnte das meine Jugend sein?

“Ich habe oft das Gefühl, als hätte ich zwei voneinander getrennte Leben gelebt”, sagt Bolz. Das eine zwischen den Plattenbauten in Stralsund, das andere in Berlin. Wenn er spricht, hält er sich das Mikrofon direkt vor den Mund, schaut immer wieder zur Decke, rutscht im Sessel hin und her. Verständlich, immerhin spricht und schreibt hier keine Kunstfigur, wie sonst, wenn Bolz als Teil der Rapgruppe Zugezogen Maskulin auftritt. Hier spricht Hendrik Bolz. Ohne Abstraktion. Ohne Schutz. 

Er liest aus dem Intro seines Buchs. Es geht um das Unverständnis, auf das er in Berlin gestoßen ist, als er 2008 zum Studieren dorthin zog. Als Junge aus Stralsund, der sich immer behaupten musste, war die Großstadt wie eine neue Welt. Seine Überlebensstrategien, die ihn zwischen den Platten gerettet haben, griffen nicht mehr. Befremdlich musterten ihn seine Kommilitonen. Und es dämmerte ihm: Meine Jugend war nicht normal, ich bin anders, ich bin ostdeutsch. 

“Ich bin aufgewachsen in einer Zeit, die nichts für Kinder war”, sagt er. Ostdeutschland sei ein rechtsfreier Raum, voller Rechtsradikaler gewesen. “Coole Jugendliche waren Nazis.” So habe er es gelernt, so habe er seine Jugend verbracht. Zwischen Rausch, Gewalt und dem Gefühl, dass sich niemand um sie schert. Jede Begegnung sei ein potentieller Konflikt gewesen. Das Stralsund von Hendrik Bolz sei ein Ort gewesen, an dem Schwäche bestraft, jedes Gefühl unterdrückt wurde.

Immer wieder schaut sich Bolz im Publikum um, als suche er eine Verbindung, jemandem, der ihm sagt: Auch in Westdeutschland kennen wir das Gefühl, dass unser Leben zweigeteilt ist, wir sind auch so aufgewachsen wie du. Nur: Das kann hier niemand so von sich behaupten. Auch nicht die Münchner Rapperin Fiva, die Bolz für eine Diskussion auf die Bühne einlädt.  Fiva ist Jahrgang 78, Bolz 88. Fiva ist im reichen Großhadern aufgewachsen, ihre Jugendfreunde seien heute fast alle Anwälte. Bolz musste sich in Stralsund gegen Neonazis behaupten, seine Jugendfreunde hätten heute erfolgreiche Drogenkarrieren. Für Fiva seien die expliziten Raptexte der Nullerjahre Tabubrüche gewesen, für Bolz spiegelten sie seine brutale Realität wider. Was die beiden verbindet ist die Hiphop-Kultur.

Aus dem Publikum fragt jemand, wie Bolz es geschafft habe, trotz all der Schwierigkeiten, so ein sanfter Mensch zu werden. Er lacht und wird dann ernst. Als er in Berlin mit etwas Abstand seine Jugend reflektierte, sei ihm erst bewusst geworden, was es bedeute, dass er aus Ostdeutschland komme. Er sei erschrocken über die Brutalität und Gleichgültigkeit. In einer Therapie habe er dann gelernt, seine Gefühle ernst zu nehmen, statt sie zu unterdrücken. 

Nullerjahre ist kein Läuterungswerk. Hendrik Bolz versucht seine Jugend zu akzeptieren mit all der Gewalt, der Perspektivlosigkeit. Und eins wird deutlich an den schockierten Reaktionen des Publikums auf die Anekdoten aus dem Buch: im Westen Deutschlands müssen Menschen wie Bolz mehr Gehör finden.

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