Im Interview spricht das Mitglied des Parteivorsitzes der Linken, Julia Schramm, darüber, ob die Linkspartei eine Erneuerung braucht, wie sie zu Russland steht und ob sie eine Putin-Versteherin ist.
Bei der letzten Wahl bekam Ihre Partei keine fünf Prozent der Stimmen, bei der Wahl im Saarland nur 2,9. Muss die Linke sich neu erfinden?
Julia Schramm: Ich mag dieses Narrativ von Neu nicht. Neu impliziert immer, dass man Grundsätze über Bord werfen muss. Das braucht die Linke nicht. Eine Linke, die für Aufrüstung, Militarisierung und Krieg argumentiert, ist keine Linke, sondern Quatsch.
Was braucht die Linke denn?
Die Linke muss sich fragen: Wie sieht ein Sozialismus heute in einem westlichen Staat aus? Als Sozialist*innen sind wir zum Beispiel gegen diese ungerechte Weltwirtschaftsordnung. Das Problem ist nur, dass Deutschland von dieser Weltwirtschaftsordnung profitiert. Das heißt: Als Linke changieren wir immer zwischen einer internationalen Solidarität und der Solidarität mit Menschen, die hier in Deutschland unter prekären Bedingungen leben, aber aus internationaler Perspektive ja immer noch privilegiert sind. Wir müssen uns also die Frage beantworten, wie wir uns eine sozialistische Partei in einer durch und durch kapitalistischen Welt vorstellen.
Ihre Partei ist in der Vergangenheit oft durch Uneinigkeit aufgefallen. Haben Sie damit Wähler vergrault?
Herausfordernd ist, dass es parteiintern an einigen Stellen zu Gegensätzen kommt. Im ländlichen ostdeutschen Raum haben wir beispielsweise viele alte Genoss*innen. Und wenn die mit jungen engagierten Anitfas aus einer westdeutschen Großstadt aufeinandnerknallen, führt das teilweise zu Konflikten. Besonders auf Social Media. Bisher haben wir zu wenig geschafft diese Konflikte fruchtbar zu machen.
Ein Konflikt, der sich auch bei Ihrem Spitzenpersonal beobachten lässt. Hat die Linke niemand besseren zu bieten als Sahra Wagenknecht?
Das Problem ist, dass wir als Partei in den letzten Jahren verpasst haben, ein einheitliches Narrativ zu erarbeiten. Wir waren inhaltlich unklar, was wir wie kommunizieren wollen. Das hat Leerstellen hinterlassen, so dass wir vor allem mit Köpfen sichtbar sind und nicht mit Inhalten. Deshalb müssen wir jetzt einen Prozess der inhaltlichen Verständigung durchlaufen.
Wie kann so ein Prozess aussehen?
Ich glaube, dass es eine riesige Herausforderung ist, Sozialismus im 21. Jahrhundert für westliche Staaten zu definieren. Deshalb bin ich dafür, dass wir parteiintern einen Prozess starten und uns mit unserem Programm auseinandersetzen und fragen: sind das noch die richtigen Worte? Sind das die richtigen Instrumente, um unsere Überzeugungen umzusetzen? Wie können wir unsere Überzeugungen glaubhaft erzählen? Wie können wir Vertrauen zurückgewinnen?
Die Linke verbindet eine gemeinsame Tradition mit Russland. Ist eine Abgrenzung zur Nato nur mit einer Solidarisierung mit Russland zu haben?
Erstmal besteht maximal eine Verbundenheit mit der ehemaligen Sowjetunion.
Aber die gibt es ja schon seit über 30 Jahren nicht mehr.
Eben, Russland ist nicht mal rhetorisch überzeugt von sozialistischen Werten. Putin hat doch Lenin selbst kritisiert und ihm massenhaft Fehler unterstellt. Putin sieht sich doch überhaupt nicht in einer sozialistischen Tradition.
Eine klare Abgrenzung zu Putins Russland wäre hilfreich gewesen.
Es gab in der Linken eine absolute Fehleinschätzung des russischen Staats unter Putin. Wir haben in Russland in den letzten 20 Jahren eine Militarisierung beobachten können, eine Entwicklung hin zu einem Polizeistaat, eine weitere Verarmung der breiten Gesellschaft, eine Zuspitzung sozialer Konflikte, eine Unterdrückung der Opposition. Und das haben wir als Linke nicht ernst genug genommen. Unser Fehler war doch nicht, dass wir die Nato zu wenig gefeiert haben. Der historische Fehler der gesellschaftlichen Linken ist, dass wir die Militarisierung und die Autokratisierung in Russland nicht von Anfang an massiv kritisiert haben.
Mit dem Krieg in der Ukraine könnte sich das als fatalen Fehler herausstellen.
Rosa Luxemburg hat gesagt: Radikale Selbstkritik ist die Luft zum Atmen der Arbeiter*innenbewegung. Und wir müssen das leben. Radikale Selbstkritik. Das bedeutet nicht, dass wir alle Grundsätze über Bord werfen, sondern zu verstehen, dass wir die Militarisierung und Autokratisierung hin zu einem Polizeistaat in Russland nicht sehen wollten, wir haben z.B. nicht auf die queeren Mahner*innen hören wollen. Dabei muss das als Linke der Maßstab sein: Die Freiheit einer Gesellschaft definiert sich über die Freiheit marginalisierter Gruppen.
Ist Pazifismus ein Wert für Friedenszeiten?
Dieser Krieg kann sicher nicht durch Aufrüstung beendet werden. Die Nato ist Russland militärisch massiv überlegen. Ob die Nato jetzt 5.000 oder 20.000 Raketen mehr hat als die Russen, ist in der jetzigen Situation irrelevant. Die Nato greift nicht ein, weil sie die nukleare Eskalation nicht aktiv einleiten möchte. Dieses Grunddilemma wird ja nicht durch Aufrüstung gelöst. Die Neutralität der Ukraine haben im Übrigen die CDU und SPD durchgesetzt.
Gibt es also nichts, was man Russland entgegensetzen kann?
Wir als Linke sind eigentlich kritisch gegenüber Sanktionen, weil die Bevölkerung immer in Mitleidenschaft gezogen wird. Aber wir glauben, wirtschaftliche Sanktionen sind jetzt grundsätzlich richtig. Nicht alle. Und wenn wir die Entscheidung darüber hätten, wie die Sanktionen aussähen, dann würden sie anders aussehen. Garantiert. Aber wirtschaftliche Sanktionen sind ein Versuch, es Putin auf nicht-militärischem Weg so schwer wie möglich zu machen, diesen Krieg weiterzuführen.
Was wäre der Weg raus aus dem Krieg?
Na, Putin muss aufhören.
Sonst gibt es keine Lösung?
Ich weiß, dass ist schwer auszuhalten. Ich kann darauf keine Antwort geben. Niemand hat eine Antwort darauf, wie man Putin stoppen kann. Weil das Problem ist, dass wir ein durchmilitarisiertes Russland haben, auch gesellschaftlich. Dass Russland an der Spitze einen Diktator hat, der auf einen Polizeistaat zurückgreifen kann und der sich mit Atomwaffen absichern kann.
Ist die Nato das falsche Bündnis für diese Krise?
Die Linke fordert ja schon lange ein kollektives Sicherheitsbündnis unter Einschließung Russlands. Letztes Jahr im Wahlkampf dachte ich noch: Was für ein antiquierter Quatsch. Und jetzt denke ich: Dieses Bündnis ist so weit in die Zukunft gerückt wie niemals zuvor. Aber, wenn man vor 15 Jahren versucht hätte, so ein Bündnis aufzubauen, hätte man vielleicht diesen Krieg verhindern können.
Also bräuchte es ein neues Bündnis, das zukunftsfähig ist?
Entweder wir erweitern die Nato so, dass sie keine North Atlantic Treaty Organization mehr ist, sondern eine World Wide Treaty Organization. Oder wir werden immer wieder solche Konflikte erleben. Wir müssen die Nato langfristig überwinden. Und wir brauchen dringend Abrüstungsinitiativen, vor allem nukleare.
Aufrüstung hilft nicht?
Putin ist militärisch alleine nicht zu besiegen. Wir können nicht im Kampf gegen Putin so werden, wie er. Wir haben weggeguckt bei der Militarisierung Russlands. Wir können doch jetzt nicht auch Deutschland militarisieren. Die Pläne der Ampel bedeuten: mehr Militär, mehr Armut. Das ist das Rezept, mit dem die Gesellschaft in Russland auf einen Angriffskrieg getrimmt wurde. Wir dürfen nicht so verrohen, wie der Krieg verroht.
Aber noch ist Deutschland nicht im Krieg.
Wenn man sich anschaut, was in der Ukraine jetzt schon für ein Elend stattfindet – es ist grauenhaft. Und wenn die ukrainische Gesellschaft diesen Krieg überstanden hat, wird sie mit den Folgen dessen lange zu kämpfen haben. Weil die Menschen, die überleben, gezeichnet sind für den Rest ihres Lebens. Wir dürfen nicht vergessen, was Krieg mit Menschen macht, was Krieg mit Seelen macht. Es ist schrecklich, mit welcher Leichtigkeit Kriegshandlungen teilweise glorifiziert werden, als wären wir in einem Videospiel. Da sind Menschen, die ihr Leben verlieren, die sehen müssen, wie ihre Heimat zerbombt wird, ihre Väter, Brüder, Söhne und Männer eingezogen werden. Wem da der Blick abgeht, dass das unendliches Leid ist und wer da der ein oder anderen Seite zujubelt als wäre das ein Fußballspiel, der wird meinen Widerspruch bekommen.
Sie widersprechen dem Schwarz-Weiß denken: Russland ist böse, Ukraine ist gut?
Wenn ich ja sage, bin ich schon wieder Putinversteherin.
Sind Sie?
Meine Solidarität gehört den Menschen in der Ukraine, in Russland und überall sonst, die sich gegen Putin erheben. Mögen wir erfolgreich sein.