Ein Gespräch mit dem Philosophen Robin Celikates über Autobahnblockaden, Klimademonstrationen und die Grenze zwischen zivilem Ungehorsam und illegalen Aktionen.
Sich auf der Straße festzukleben, wie das diese Woche die Gruppe Letzte Generation wieder getan hat – ist das zu radikal?
Es kommt drauf an, auf welchem Spektrum man das jetzt betrachtet. Sich für seine Überzeugungen auf die Straße zu setzen und festzukleben, ist vielleicht radikal im Vergleich zu dem, was die Menschen in Deutschland gewöhnt sind, was sie erwarten, was üblich ist in unserem politischen System. In einem größeren Kontext betrachtet aber sind die allermeisten Mittel, zu denen die Klimabewegungen greifen – das umfasst jetzt auch die sogenannten radikaleren Teile, also Ende Gelände und Aufstand der letzten Generation– alle noch ziemlich gemäßigt.
Im Vergleich zu welchen Protesten?
Man muss die Klimaproteste doch nur politisch und auch historisch in einem größeren Kontext situieren und nicht den Skandalisierungsversuchen mancher Medien und politischen Parteien folgen. Sich auf einer Straße festzukleben, Hausfriedensbruch zu begehen, wenn man auf ein Unternehmensareal eindringt, sich irgendwo festzuketten, Straßen zu blockieren, das sind alles ziemlich normale Mittel des Protests, zu denen soziale Bewegungen in allen möglichen Kontexten auch in Demokratien, auch in Rechtsstaaten, immer wieder gegriffen haben.
Haben Sie kein Verständnis für den Zorn der Autofahrer, die wegen Blockaden nicht pünktlich zur Arbeit kommen?
Ich fand jetzt die Autobahnblockaden im Berufsverkehr auch nicht das beste Mittel. Aber das liegt nicht daran, dass die zu radikal waren. Ich würde eher sagen, dass die strategisch nicht gut durchdacht waren, so dass letztendlich die öffentliche Diskussion durch die Skandalisierungslogik geprägt werden konnte. Die Frage hier ist: Welches Mittel ist zielführend? Allerdings hatte ich letztes Jahr durchaus Probleme mit dem Hungerstreik der Letzten Generation. Der war zu radikal. Der Hungerstreik wird normalerweise von politischen Gruppen verwendet, die sich in einer oft viel dramatischeren Situation befinden. Ohne jetzt die berechtigten Ängste und die Motivation der Mitglieder der Letzten Generation herunterspielen zu wollen, muss man hier doch fragen, ob das wirklich ein adäquates Mittel ist, wenn es sonst vor allem von Menschen in politischer Gefangenschaft verwendet wird.
Sich festzukleben, den Verkehr zu stoppen ist nicht legal – aber ist es legitim?
Das würde ich zumindest argumentieren. Ziviler Ungehorsam ist per definitionem nicht legal. Es handelt sich ja um eine Art des Protests, die den absichtlichen Bruch eines Gesetzes und somit eine gewisse Radikalisierung miteinschließt. Damit steht sie im Gegensatz zu rechtskonformen Formen des Protests, angemeldeten Demonstrationen etwa. Ziviler Ungehorsam geht diesen weiteren Schritt, um zu zeigen, dass das Anliegen besonders dringlich ist, um zu zeigen, dass die Reaktion des politischen Systems oder der Mehrheitsgesellschaft auf die Forderungen der Bewegung inadäquat sind. Deswegen ist klar: Konkrete Protestaktionen wie Autobahnblockaden sind illegal, das sind gezielte Verstöße zum Beispiel gegen die Straßenverkehrsordnung. Aber sie sind deswegen noch nicht illegitim! Der Bundesjustizminister ist anscheinend nicht willens oder in der Lage, diese Unterscheidung zu treffen, wenn er etwa behauptet, Protest in der Demokratie müsse immer im Rahmen des Rechts stattfinden. Doch Protest muss nicht immer rechtmäßig sein. Das zeigt auch die deutsche Geschichte, weil sehr viele für unsere Demokratie wichtige Protestbewegungen den Rechtsbruch gezielt eingesetzt haben. Hätte es diese nicht gegeben, würden wir heute nicht in der Demokratie leben, in der wir trotz aller massiven Defizite zum Glück leben. Ich würde auch argumentieren, dass heute noch dieses Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität grundlegend ist für die Demokratie und für das, was Bürgerinnen und Bürger manchmal tun müssen, um ihren Ansprüchen Gehör zu verschaffen.
Also sollte man die Protestaktionen einfach durchwinken?
Zu sagen, Protest ist legitim, heißt nicht, dass er in jedem Einzelfall auch gerechtfertigt ist. Ob eine Aktion gerechtfertigt ist oder nicht, hängt von vielen Kontextfaktoren ab. Aber dass Protest, auch illegaler Protest in einer Demokratie erstmal legitim ist, finde ich fundamental.
Klimabewegungen fordern „System change“ statt „Climate change“. Stoßen sie mit so einer Forderung nicht schon an die Grenzen von zivilem Ungehorsam?
Ziviler Ungehorsam wird manchmal etwas zu stark mit systemimmantem Protest gleichgesetzt. Es wird behauptet, wir akzeptieren das System als Ganzes und ziviler Ungehorsam drängt nur auf kleine Korrekturen oder eben Reformen hier und da. Nur dieses Gesetz ist falsch – aber die Gesamtordnung ist in Ordnung. Das stimmt schon für viele der historischen Beispiele nicht ganz. Die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung steht für den Diskurs und die Praxis des zivilen Ungehorsams, war aber zugleich auch sehr radikal, gerade auch in ihrer Zielsetzung. Ihr ging es um deutlich mehr als eine kleine Änderung der Gesetzesordnung: es ging um einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft. Und deswegen kann man nicht einfach sagen: die fordern einen Systemwandel, also ist es kein ziviler Ungehorsam mehr – sondern revolutionär.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen zivilem Ungehorsam und Revolution?
Die Frage ist: Welche Werte sollen den Systemwandel anleiten, in welche Richtung soll das gehen? Und wenn diese Prinzipien oder Werte schon in der bestehenden Ordnung verankert sind, also zwar über sie hinaus weisen, aber durch eine Radikalisierung dessen, was im Prinzip anerkannt ist, dann ist die Bewegung auch nicht einfach revolutionär zu nennen. So war das bereits bei der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die haben doch zunächst mal nur gesagt: In der Verfassung stehen diese ganzen tollen Werte und Prinzipien, von denen wir aber systematisch ausgeschlossen sind durch die sogenannte Rassentrennung. Um das Versprechen der Verfassung zu realisieren, brauchen wir eine radikal andere Gesellschaft. Das ist einerseits revolutionär – die Forderung nach einer radikal anderen Gesellschaft -, aber andererseits hatte die Gesellschaft die Werte doch schon anerkannt, um die es der Bewegung ging.
Und die Klimabewegung?
Teilweise argumentieren die radikaleren Tendenzen der Klimabewegung doch ganz ähnlich. Die fordern echte Demokratie, echte Generationengerechtigkeit. Im Prinzip stehen diese Werte ja auch im Grundgesetz, etwa als Verantwortung für zukünftige Generationen. Aber den mit diesen Werten und Prinzipien verbundenen Auftrag zu erfüllen, erfordert viel mehr als heute akzeptiert wird. In diesem Sinne ist der Klimaprotest sowohl radikal, weil er auf eine Veränderung des Systems abzielt, als auch systemimmanent, weil er die unserem heutigen politischen System zugrundliegenden Prinzipien in Anschlag bringt. Es sind genau diese Prinzipien, die nach einer radikalen Transformation verlangen. Außerdem streben große Teile der Klimabewegung ja auf eine Weise nach einem Systemwandel, die nicht total mit dem System bricht.
Eine Umwälzung, die sich noch an den Grundwerten der Demokratie orientiert.
Genau. Vor diesem Hintergrund ist doch interessant, dass die Gruppe Ende Gelände in Berlin vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Also muss man annehmen, dass hier der Verdacht bestand, die Bewegung stelle die demokratische Grundordnung in Frage. Der Kapitalismus, das muss man betonen, ist nicht vom Grundgesetz geschützt. Er gehört nicht zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das Grundgesetz lässt die Frage, wie genau die Wirtschaftsordnung aussieht, bewusst offen. Das war damals auch ein wichtiger Punkt für die sogenannten Väter und Mütter des Grundgesetzes: dass sie das nicht vorentscheiden wollten. Bestimmte Aspekte der kapitalistischen Marktwirtschaft sind natürlich angelegt in Grundrechten wie der Eigentumsgarantie oder der Berufsfreiheit, aber eine radikal andere Wirtschaftsordnung ist durchaus möglich, ohne den Boden des Grundgesetzes zu verlassen. Deshalb haben viele kritische Jurist*innen angezweifelt, ob die Beobachtung von Ende Gelände durch den Verfassungsschutz rechtens ist. Nur weil Ende Gelände kapitalismuskritisch ist, heißt das noch lange nicht, dass die Gruppe die Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaats angreift. Auch radikale Kapitalismuskritik ist noch kein Schritt in die Verfassungsfeindlichkeit.
Sie haben den Hungerstreik kritisiert, haben gesagt, die Autobahnblockaden waren strategisch nicht sinnvoll. Was wäre denn ein sinnvoller Protest?
Das kann man tatsächlich nicht abstrakt und auch nicht im Vorfeld sagen und deswegen will ich auch nicht sagen, bestimmte Mittel sind per se nicht sinnvoll. Protestbewegungen müssen experimentell vorgehen, lernfähig bleiben und auch schnell darauf reagieren, wenn sich herausstellt, dass ein Mittel oder ein bestimmter Weg in die Sackgasse führt. Und sei es auch eine Sackgasse, in die man ohne eigenes Verschulden geraten ist, etwa weil bestimmte Zeitungen Druck aufbauen oder die Diskussion durch Skandalisierung verzerren, sodass man dem einfach nicht mehr viel entgegensetzen kann. Da kann man noch so viele Fotos von Krankenwägen posten, die bei Sitzblockaden sofort durchgelassen werden – wenn erstmal die Geschichte in der Öffentlichkeit zirkuliert, dass da ein Krankenwagen wegen der Autobahnblockaden nicht durchkam, kommt man dagegen kaum mehr an. Deswegen muss man flexibel reagieren und sich auch nicht zu sehr an die gewählten Mittel binden. Mittel sind Mittel. Wenn die nicht effektiv sind, muss man die Strategie anpassen und neue Mittel ausprobieren. Und anpassen heißt nicht zurückstecken, sondern weiter experimentieren. Wichtig ist: Die Mittel müssen an den Zielen auch in dem Sinn ausgerichtet sein, dass sich die Ziele in den Mitteln widergespiegelt finden.
Haben Sie ein Beispiel?
Die Occupy Bewegung zum Beispiel hat versucht, schon in den Besetzungen die Gesellschaft, die sie erreichen wollten, vorzuleben. Durch eine andere interne Organisation der Protestbewegung wurde versucht, Marginalisierung entgegenzutreten, etwa marginalisierten Gruppen gleichen Rederaum zu geben, und soziale Hierarchien und Machtverhältnisse nicht einfach zu reproduzieren. Das wurde belächelt und als Revolutionsromantik abgetan. Aber ich finde es wichtig, dass soziale Bewegungen verstehen, dass sie Mittel einerseits flexibel einsetzen und damit experimentieren und auch lernfähig bleiben müssen, aber andererseits diese Mittel auch in ein sinnvolles Verhältnis zu ihren Zielen setzen müssen.
Was müsste passieren, damit die Öffentlichkeit und Politik diese Proteste ernster nehmen, statt sie mit Argumenten wie, da kommt kein Krankenwagen mehr durch, wegzuwischen?
Vielleicht muss man erst einmal festhalten, dass die Klimabewegung schon sehr viel erreicht hat. Fridays for Future und Extinction Rebellion haben es geschafft, den Diskurs über die Klimakatastrophe nachhaltig zu verändern. Ich glaube auch, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom letzten Jahr nicht in der Weise gefällt worden wäre, wenn es diese Bewegung nicht gegeben hätte. Und was strategisch noch entscheidend war – gerade bei Fridays for Future: Es ist eine Bewegung, die nicht einfach in die radikale Ecke geschoben und von der Gesellschaft ignoriert werden konnte.
Wenn Fridays for Future schon so viel erreicht haben – warum braucht es dann die anderen Gruppen?
Für die Klimabewegung ist es von großer Wichtigkeit, dass es diese unterschiedlichen Strömungen und auch diese Diversität von Taktiken und Strategien gibt. Das gilt auch für die Zukunft der Klimabewegung. Neben dem eher moderaten Strang, mit dem die Leute relativ einfach sympathisieren können, muss es auch weiterhin die eher radikalen Stränge geben, die anecken und sich nicht darum kümmern, ob sie auf Verständnis stoßen oder nicht, die auch mal die Konflikte zuspitzen. Es ist wichtig, dass Fridays for Future sich nicht ausspielen lässt gegen Ende Gelände, die mit ihren Protesttaktiken doch etwas weiter gehen.
Der Hungerstreik war eine sehr zielgerichtete Aktion. Da hieß es: Wir wollen mit Scholz sprechen, wir hungern, bis das Gespräch stattfindet. Die Straßenblockaden sind eher diffus in der Botschaft. Wie zielgerichtet sollte so ein Protest sein?
Auch das kann man nicht allgemein sagen, weil viele Protestformen indirekt sind. Wenn Sie eine Straße blockieren, dann verletzen Sie die Straßenverkehrsordnung, protestieren aber im Normalfall nicht gegen die Straßenverkehrsordnung. Deswegen muss es immer einen Vermittlungsschritt geben: Wir blockieren hier die Straße, wollen aber auf dieses oder jenes Problem aufmerksam machen. Bei den Autobahnblockaden war eines der Ziele, die Frage des Verbots des Containerns auf die politische Agenda zu setzen. Das war vielleicht nicht besonders evident, weil viele Menschen nicht direkt verstanden haben, worum es geht. Das war zu kompliziert. Man muss Aktionsformen finden, die stärker zünden, die direkter sind, die bei der Öffentlichkeit einen Erkenntniseffekt auslösen, der zum Umdenken zwingt.
Das Gespräch führte Moritz Hackl