Zeit zum Zögern (Tagesspiegel 21.05.2022)

Der Krieg in der Ukraine findet für die Menschen hierzulande vor allem in den Medien statt.  Er wird konsumiert, Selbst- und Weltbezug gehen dabei verloren. Ein Plädoyer für das Innehalten.

Es hat sicher nicht alles mit dem Handy angefangen. Aber jetzt leuchtet es schon wieder auf. „Fünf Tote durch Raketenangriffe in Odessa“, steht da. Noch fünf mehr? Ich aktualisiere. Keine neue Nachricht. Ich aktualisiere nochmal. Wieder nichts. Mein Kopf ist leer. Ich weiß nicht, ob ich an etwas denke, ob ich nachdenke. Es rauscht, aber da ist nichts zum Festhalten, keine weiteren Worte.

Dabei ist es doch genau das, was der Live-Ticker verspricht: Kontrolle. Oder zumindest ein Gefühl davon. Wir denken: Information sortiert das chaotische Weltgeschehen. Offensichtlich eine Illusion. Natürlich verändert unser Nachrichtenkonsum gar nichts im Außen. In uns dafür umso mehr.

Der Philosoph Byung-Chul Han nennt das Smartphone ein Un-Ding. Es habe einen unruhigen Charakter, nicht wie Stuhl oder Tisch, die immer Stuhl und Tisch bleiben. Das Handy ist anders. Es verändert sich mit jeder Nachricht und Push-Meldung. Han nennt das Produkt der Smartphone-Erziehung serielle Wahrnehmung. „Das ständige Update, das inzwischen alle Lebensbereiche erfasst, lässt keine Dauer, keinen Abschluss zu“, schreibt er in seinem Essay „Vom Verschwinden der Rituale“. Nichts ist von Dauer. Der Wert einer Nachricht wird durch die nächste aufgelöst. Und alles hängt von der nächsten ab.

Wie schrecklich es ist, einen Krieg am Handy zu verfolgen! Und er ist auch sonst überall. In der Zeitung, im Radio, im Fernsehen, in aller Munde. Nein, um Gottes willen, das soll hier kein Plädoyer dafür sein, das Grauen des Krieges zu ignorieren. Dafür ist das zu ernst. Doch der Krieg wird zu sehr konsumierbar: Man lauert förmlich auf die nächste Nachricht aus der Ukraine, aus dem Kriegsgeschehen. Schauen. Aktualisieren. Schauen. Aktualisieren. So sind wir es gewohnt. Wir Binge-Watchen das Leben. Weil es immer weitergeht. Das Problem: Wir haben verlernt loszulassen. Das zeigt sich auch in der Popkultur. Wir lieben Filme mit Fortsetzungen. „Fast and the Furious 9“, „Harry Potter 8“. Statt Kultserien wie „Friends“ oder „Sex and the City“ ein Ende finden zu lassen, fordern wir Reunions oder Neuauflagen, Sequels und Prequels. Warum können wir nicht loslassen?

Es fehlen Rituale, schreibt Byung-Chul Han. Früher gab es noch Initiationsriten, die beispielsweise das Ende der Kindheit und den Beginn des Erwachsenenalters markierten. Und heute: nichts. Unsere Leben addieren sich. Endlos. Oder besser: Schlusslos. „Initiations- und Opferrituale sind symbolische Akte, die vielfache Übergänge von Leben und Tod regeln“, schreibt Han. „Die Initation ist eine zweite Geburt, die auf den Tod, auf das Ende einer Lebensphase folgt.“ Heute jedoch stülpt sich die Pubertät auf die Kindheit, statt sie abzulösen. Das Erwachsensein folgt nicht auf das hormonelle Dazwischen der Jugend, sondern gliedert sich unangekündigt an. Nicht ohne Grund suchen junge Erwachsene unaufhörlich nach Anzeichen dafür, ob sie nun endlich erwachsen sind. Wenn sie ihre Rechnungen zahlen zum Beispiel oder lieber früher schlafen gehen als Gläser in Kneipen zu leeren.

In der globalisierten Gesellschaft der Singularitäten fehlt die Gemeinschaft, so wie sie früher im Zeitalter der Clans bestand. Nur durch das gemeinschaftliche Erleben und Zelebrieren der Veränderungen im Leben eines Menschen, ließen sich Markierungen setzen – durch entsprechende Rituale. Und die fehlen. Kein Ritual, keine Gemeinschaft.

Aber ein Krieg? Damit kann man wirklich nicht abschließen. Ausgeschlossen.

Ich sitze wieder alleine am Handy und Doom-scrolle. Ich lese von Toten, von Flüchtenden, von Kriegsverbrechen. Kein Gefühl. Keine Regung. Vielleicht blendet das Handylicht ein wenig. Aber sonst? Klar: Die Leere wird immer drückender. Der kontinuierliche Strom an Nachrichten verhindert, dass sich aus Eindrücken Gefühle entwickeln. Dafür bräuchte es Zeit. Die gibt es nicht. Ich muss weiter scrollen. Tiefer in das Rabbithole. Hinein in die Hölle der rauschenden Neuigkeiten, wo alles gleich ist, jede Nachdenklichkeit fehlt.

Vielleicht würde es helfen, zumindest mit einzelnen Nachrichten abzuschließen. Dass man das lernt.

Die Atemlosigkeit zeigt sich deutlich in sozialen Netzwerken. Twitter wirkt wie ein freiliegender, zuckender Nerv, der gar nicht anders kann als auszuschlagen. Auf Tweet folgt Retweet, Kommentar und Shitstorm. Was fehlt: Zeit für Kontemplation. Kaum einer nimmt sich einen Moment, um das Gelesene sacken zu lassen. Der Reiz bestimmt die Reaktion. Wir fühlen uns wie Astronauten im Weltall: Es ist gerade deshalb so leer in uns, weil es zu viel ist. Die Leere versuchen wir durch Konsum zu füllen, der uns noch weniger fühlen lässt.

Bei all dem atemlosen Konsum von Schreckensnachrichten kann Kontemplation gar nicht stattfinden. Wir geben uns keine Zeit, das Gelesene zu verarbeiten. Die Bilder von Massengräbern, von Leichen und ausgebomten Städten hinterlassen auch in uns Trümmer, die wir aufräumen müssten. Um das zu tun bräuchte es die Stille. Das Zaudern. Nur durch das Zaudern werden wir handlungsfähig. Wenn wir nicht innehalten, um zu prüfen, wie uns eine Nachricht oder ein Wort trifft, können wir nur reagieren – affektiv. Zaudern heißt: den Fernseher auschalten, das Handy weglegen, die Augen schließen. So eine Pause würde wirklich helfen. Morgen können wir uns dem Krieg wieder widmen. Morgen können wir wieder darüber nachdenken, wie wir helfen können, was jetzt zu tun ist. Aber heute nicht, jetzt nicht.

Das Zaudern ist ein Schwebezustand. Alles kann geschehen. Aber man wird diesem Alles gewahr. Die Möglichkeiten, die sich einem bieten, reihen sich vor dem inneren Auge auf, wie Platten in der Jukebox – und man ist ganz bei sich. Wir alle kennen das Zaudern vor der Wut. Der Moment, in dem sich entscheidet, ob die Woge bricht – oder nicht. Entweder ich ergebe mich vor meinen Emotionen oder ich gebiete ihnen Einhalt.

Konkret bedeutet das: Ich kann weiter doom-scrollen, mich verlieren im bulimischen Nachrichtenkonsum. Oder ich kann mich dagegen entscheiden. Alles, was ich tun kann, kann ich auch nicht tun. Das bewusste Zaudern ist der Weg aus dem affektgesteuertem Konsum. Ein Schritt weg von der Welt, ein Schritt auf uns selbst zu. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen, um in sich hineinzuhorchen. Was macht diese Nachricht mit mir? Wie geht es mir damit? Was brauche ich jetzt, was könnte mir gut tun, damit ich nicht verzweifle? Das ist kein egozentrischer oder gar narzisstischer Akt. Im Gegenteil. Nur wer in Kontakt mit sich selbst kommt, wer versucht sich selbst zu verstehen, kann auch handelnd für seine Mitmenschen da sein. Niemand gewinnt, wenn wir uns selbst verlieren.

Vielleicht sollten wir uns alle mehr Ruhe gönnen. Schweigen lernen. Wir sollten einen Tag in der Woche ohne Konsum einführen, ohne Produktivität. Einen Tag für die Stille, für die beiläufige Begegnung mit der Welt. Um der Welt danach wieder begegnen zu können, in uns ruhend. Nur so lässt sich das Chaos des Außen im Innen ordnen.

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